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Das neue Besucherzentrum vom Genter Altar

Sind Gruppen überhaupt wilkommen?


Neugierig ging ich nach Gent, um das nagelneue Besucherzentrum in der St. Baafs Kathedrale zu entdecken, weil ich als Reiseleiter versuche mich auf neue Situationen vorzubereiten damit ich später keine Überraschungen erlebe. Die Online-Reservierung wird wahrscheinlich auch nach COVID unvermeidlich bleiben. Ich habe während dieser Reservierung vergeblich nach Tickets für ICOM-Mitglieder gesucht. Dann fing schon ein Licht an zu brennen. Ups, kein ICOM! Wäre das Besucherzentrum kein ICOM-Mitglied? Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die begeisterte Werbung nicht richtig gelesen habe: Nirgends heißt es, dass dies ein Museum ist. Warum sollte sich die Kirchenfabrik von St. Baafs auf solche Besserwisser einlassen?


Auf der Visit Gent-Website konnte ich folgenden Werbetext lesen: "Mithilfe einer „Augmented Reality“-Brille können Sie in der Krypta der Kathedrale in die weite Vergangenheit reisen und die bewegte Geschichte des Genter Altars und der Genter Kathedrale erleben, als ob Sie selbst dabei wären. Sowohl das Meisterwerk als auch das imponierende Gebäude werden in voller Pracht lebendig. Erfahren Sie hier das größte Geheimnis!"


Es wurde weder Geld noch Mühe gescheut, um einen modernen High-Tech-Tour zu entwerfen. Bevor Sie das neue Heiligtum betreten dürfen, können Sie der nagelneuen Wand mit Schließfächern nicht entkommen, da Rucksäcke (zu Recht) nicht erlaubt sind. Ein freundlicher Freiwilliger erklärt mir, wie man diese elektronischen Kästchen bedient. Ich darf meinen Zugangscode nicht vergessen, aber das ist nicht schwierig, da Sie wahrscheinlich erraten können, welchen Code ich dafür verwende. Aber ich muss mich an meine Schließfachnummer erinnern. Ich kann es bereits sehen: Mit einer Gruppe von etwa 30 Senioren bin ich schnell für fünfzehn Minuten damit beschäftigt, alle Taschen, Regenschirmen usw. aufzubewahren. Die einzelne Schließfächer haben keinen eigenen Bildschirm. Ich kann meine Gruppe bereits vor dem zentralen Bildschirm in der Warteschlange sehen. Wie kann ich eine andere Sprache für den Bildschirm auswählen? Gibt es Gruppenschließfächer? Der freundliche Mitarbeiter konnte mir hierzu noch keine Auskunft geben.



Dann erreiche ich durch eine schmale Tür den Ticket- und Infoschalter, der in einem kleinen Raum untergebracht ist. Fantastisch: Mit meinen dreißig ungeduldigen Senioren kann ich schnell alles blockieren. Als hätten die Designer mögliche Probleme vorab geahnt: In einem Video wird im Voraus erklärt, wie man die AR-Brille aufsetzt, denn das ist nicht so einfach. Dann geht es die Treppe zur Krypta hinunter. Dort bekomme ich das technologische Wunder auf den Kopf. Was nicht in allen begeisterten Bildern und auch im Video gezeigt wird, ist, dass Sie auch eine Tasche um Ihre Schulter hängen müssen, in der das Wunder aufbewahrt wird. Um nicht in einen Kampf mit der Schnur und der Tragetasche des Geräts und meinem Brillenschnur verwickelt zu werden, habe ich tatsächlich besser keinen Rucksack dabei. Das Foto von "zwei Personen folgen den Augmented Reality-Tour ..." auf der Visit Gent-Website ist in dieser Hinsicht geradezu irreführend: Die beiden Besucher starren mit hochgeklappter Brille (!) und die Dame hat eindeutig Probleme mit ihrer Schulter Tasche.


© Sint-Baafskathedraal Gent,www.artinflanders.be, photo Bas Bogaerts


Beschwer dich nicht. Bald werde ich "das höchste Geheimnis" erleben. Mit meiner Brille werde ich durch die acht Szenen geführt. Vorher habe ich noch mal mein altes Büchlein über den Genter Altar gelesen. Inhaltlich entdecke ich aber nichts Neues. Darüber hinaus ist die "Augmented Reality" eher eine "reduzierte Qualität". Die Projektion vibriert und ist überhaupt nicht scharf: Als würden Sie eine Sendung im Fernsehen filmen und dann erneut abspielen. Die Animation mit eine Art Puppen sieht auch sehr hölzern und lächerlich aus. Und das in einem Land mit den besten Cartoonisten und Spieledesignern!




Technisch genial, aber ob sich Senioren an diese Technologie gewöhnen, ist die Frage. Diese Animation ist gut für Uneingeweihte, aber der Mehrwert-Suchende bleibt hungrig. Außerdem können Sie nur eine Szene mit 4 bis 5 Personen betreten. Hoffentlich verschwindet diese Einschränkung nach Covid, da dies wahrscheinlich bedeutet, dass die Anzahl der möglichen Besucher pro Stunde nur etwa dreißig beträgt.

Nach ca. 40 Minuten kann ich wieder in die reale Welt zurückkehren. Von der Krypta muss ich die Treppe zur Sakramentskapelle hinaufgehen. Ich habe den Aufzug nicht ausprobiert, aber auch dort befürchte ich einen weiteren Engpass für Gruppen von Senioren. Nach 40 Minuten virtueller Erfahrung kann ich das restaurierte Genter Altarbild in seiner vollständig restaurierten Pracht endlich (wieder) entdecken. Zum Glück keine Situationen wie bei der Mona Lisa. Es ist ruhig und das kann angesichts der Covid-Maßnahmen und der eingebauten Hindernisse für Gruppen nicht anders sein.


Der Genter Altar ist in einen abgeschlossenen Glascontainer eingebaut. Der Besucher bleibt ziemlich weit vom Kunstwerk entfernt so dass die Pracht und die Detailgenauigkeit nur beschränkt genossen werden können. Die Ironie ist dass der Besuch der "Realität" viel kürzer dauert als die 40-minütige Inszenierung der "Augmented Reality". Ich vermute, dass der Begriff "Augmented Reality" von Marketingleute als Euphemismus für "Virtual Reality" erfunden wurde, da dies offensichtlich eine "Contradictio in terminis" ist.


Zu Hause habe ich nochmal die fabelhafte Website "Closer to Van Eyck" besucht. Auf diese Website erfahren Sie alles über die langjährige Restauration und können Sie sich die makrofotografische Bilder stundenlang und kostenlos anschauen. Diese Website ist die wahre "Augmented Reality" vom Genter Altar.



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